Volksgemeinschaft
Die Sehnsüchte Vieler aufgreifend propagierten die Nationalsozialisten die Volksgemeinschaft als Lösung aller politischen und sozialen Gegensätze der Weimarer Republik. In einer solidarischen Gemeinschaft deutscher Volksgenossen sollten alle Unterschiede in Herkunft, Beruf, Vermögen und Bildung verschwunden sein. Daran anknüpfende Parolen wie Gemeinnutz geht vor Eigennutz stießen auf breite Zustimmung.
Von dieser rassisch begründeten und definierten Gemeinschaft waren allerdings nach NS-Verständnis „Artfremde“ wie die Juden ausgeschlossen.
Natürlich blieb die Propaganda weit entfernt von der Realität. Insbesondere NS-Funktionäre frönten als Profiteure des Regimes dem Eigennutz.
Schaumburger Trachtengruppe mit euphorischem Hitlergruß, undatiert (vermutlich 1934)
Sammlung Gelderblom, aus Privatbesitz
Laut Goebbels sollte der „Tag des deutschen Bauern“ ein Fest des ganzen Volkes, der Volksgemeinschaft, werden. Menschen aller sozialen Schichten sollten mobilisiert werden.
Um den Eindruck eines Bauernfestes zu unterstreichen und den Bauernstand hervorzuheben, waren Trachtengruppen in der Bildpropaganda deutlich überrepräsentiert. Tatsächlich aber waren Bauern als Teilnehmer zahlenmäßig in der Minderheit.
Aus dem ländlichen Kreis Lemgo kamen 1936 insgesamt 6.130 Besucher. Davon waren 3.321 Arbeiter und 1.788 Angestellte und Beamte. Bauern machten mit 1.021 Bückeberg-Fahrern gerade ein Sechstel aus.
Der Aufruf von Goebbels wandte sich an die gesamte Bevölkerung:
„Der deutsche Erntedanktag ist durch das Zusammenwirken der neuen Volksgemeinschaft in Stadt und Land zum großen Symbol der neuen Wiedervereinigung des gesamten deutschen Volkes geworden.“ (Deister- und Weserzeitung Hameln vom 3.10.1933.)
Frauen und Kinder, 1935
Sammlung Gelderblom, aus Privatbesitz
Beamte bzw. öffentlich Bedienstete waren vom Dienst freigestellt, also quasi zur Teilnahme verpflichtet. Ein Großteil der Besucher dürfte aus Mittelstädten wie Minden oder Herford, vor allem aber aus den Großstädten Hannover und Braunschweig als Tagesbesucher angereist sein.
Entsprechend der Inszenierung als ziviles Volksfest wurden Frauen – und Kinder ab 14 Jahren – ausdrücklich zur Teilnahme aufgefordert. Sie stellten einen relativ großen Teil des Publikums und waren ein beliebtes Motiv der Bildpropaganda. Hier unterscheidet sich das Reichserntedankfest deutlich von den anderen NS-Massenveranstaltungen, auf denen Männer dominierten.
Viele Frauen gehörten uniformierten Abordnungen der NS-Frauenschaft oder des NS-Bundes deutscher Mädel an.
Erwartungsvolles Publikum, undatiert (vermutlich 1935)
Historisches Museum Hannover, Bildarchiv, Fotograf: Hans Pusen
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehörten mehrheitlich nicht der NSDAP an. Auch scheinen Parteimitglieder verglichen mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung nicht überrepräsentiert gewesen zu sein. Dem NS-Regime gelang mit der Veranstaltung am Bückeberg eine Mobilisierung über die eigene Klientel hinaus.
Aussagen von Zeitzeugen über das Reichserntedankfest lassen sehr unterschiedliche Eindrücke und Einstellungen erkennen. Sie reichen von absoluter Begeisterung über Distanz bis zur Ablehnung und der Ahnung darum, welch gefährlich suggestive Kraft ein solches Propagandaspektakel entfalten kann. Äußerungen der vom Regime Ausgeschlossenen zum Reichserntedankfest sind nicht bekannt.
Begeisterte
„Ich werde es nie vergessen! Erntedankfest 1935 auf dem Bückeberg! ... Wir stehen! Stehen am Weg zur oberen Tribüne. Der Führer muß an uns vorbei! Die Uhr zeigt sieben. So früh noch, und – erst am Mittag soll er kommen! Lange Zeit. Lang genug, um sich auf den Augenblick vorzubereiten! Und – stürmt nicht schon das Blut schneller durch die Adern?
Die Sonne steigt! Wolken verdecken sie noch, aber sie steigt! Langsam wälzen sich von allen Seiten Menschenströme heran; langsam, ohne Ende. Unsere Augen suchen mit dem Glase den Horizont ab: Menschen – Menschen.“
Anonymer Verfasser, in: Curt Reinhard Dietz und Erich Langenbucher: „Erzähl, Kamerad!“ Erlebtes aus deutschen Gauen. Mit einem Geleitwort des Reichsbauernführers R. Walther Darré, Berlin [1. Auflage 1936] 2. Auflage 1941, S. 141-149.
„Wenn er an dir vorbeigeht, ist es, als wenn Jesus einen anguckt.“
Eine Bäuerin aus dem evangelisch geprägten Schaumburger Land, Zeitzeugeninterview, undatiert.
„Christus ist zu uns gekommen durch Adolf Hitler!“
Ein thüringischer Kirchenrat, In: Philipp W. Fabry, Mutmassungen über Hitler. Urteile von Zeitgenossen, Düsseldorf 1979, S. 105.
Ein intellektueller Nationalsozialist
„Nun begab sich der Führer zur Rednerbühne und sprach wie im Vorjahre … etwa ¾ Std. nach Manuskript, wirksam wie immer, wenn auch ohne wesentlich neue Gedanken und Formulierungen und auch ohne engere Beziehung zum Anlaß des Tages; von Dank und Ernte war im Grund wenig die Rede.
Unvergeßlicher als des Führers Worte prägte sich sein Bild der Seele ein: das von Menschen gefüllte Riesenrund vor die liebliche deutsche Landschaft gestellt – es war, als ob Himmel und Erde zusammenstrebten in diesem einen Punkte und diesem einzigen Manne, das altdeutsche Thing lebt wieder auf in diesen Volksmassenversammlungen unter freiem Himmel.“
Georg S., Mitte 30, Beamter aus Hannover, 1934, Niedersächsisches Landesarchiv Hannover.
Ein unpolitischer Jugendlicher
„Mein Vater schrieb in sein Tagebuch: ‚Stimmung nicht besonders‘, während ich durch eine solche Massenkundgebung mit dem Führer beeindruckt war und mich darüber freute, so günstige Gelegenheit zum Photographieren gehabt zu haben.“
Der 17 Jahre alte Ulrich Sahm, der mit seinem Vater – Oberbürgermeister der Reichshauptstadt Berlin – in nächster Nähe zu Hitler auf der Ehrentribüne saß, in einem Zeitzeugeninterview.
„Zaungäste“
„Jedenfalls zwischen dieses Menschengedränge wollen wir uns nicht stellen, sondern nehmen hinter der fast 20 Meter hohen Redner-Tribüne Platz. Von dort können wir alles gut übersehen.“
Der fast 50 Jahre alte Kaufmann Carl Krüger aus der Stadt Bückeburg.
„Und dann begann das Fest. Die Strassen waren schwarz von Menschen; ich verglich es immer mit einem langsam sich dahin wälzenden Lindwurm. ... [Nach dem Ende des Festes:] Der Lindwurm setzte sich wieder rückwärts in Bewegung und wer dazwischen kam, kam nicht wieder raus, so ein Onkel von mir, der nach Hameln wollte. Er wurde erst in Hilligsfeld wieder befreit.“
Die damals 8 Jahre alte Maria Nelde aus Hagenohsen 2010 im Interview.
Neutrale Besucher aus dem Ausland
„Ungeheure Spannung und Erwartung erfüllten die Menschen, die auf das Eintreffen Hitlers und seines Gefolges warteten. Als fern unten in der Ebene die Autokolonne herannahte, wehte wie ein Orkan das von abertausenden Stimmen ununterbrochen gerufene ‚Heil!‘ vom Berghang herab, diesem Manne entgegen, der es verstanden hatte, das deutsche Volk in seinen Bann zu schlagen.
Nun hielt er von der unteren Tribüne aus eine Rede, die im Begeisterungsrausch der Massen endete. Anschliessend stieg er mit seiner engeren Umgebung den freigehaltenen Mittelgang hinauf. Aber er kam nur langsam vorwärts. Zu beiden Seiten standen die Bäuerinnen in ihren schmucken Trachten aus Bückeburg, aus dem Weserbergland, aus dem Westfälischen, und alle drängten auf ihn zu, um ihn zu sehen, um ihm die Hand zu drücken und um in seine blauen Augen zu schauen. Strahlendes Lächeln war auf seinem Antlitz, und plötzlich stand er vor mir, keinen Meter weit, und sah mir sekundenlang in die Augen. Er übte unbestritten eine starke Wirkung aus. Die Begeisterung der Tausende, die ohne Pause ‚Heil‘ riefen, steigerte jeden einzelnen in einen Rausch hinein, und das erhöhte noch die Wirkung, welche die Persönlichkeit dieses Mannes ausübte. Überall griff er nach Händen, die sich ihm in dichter Fülle entgegenstreckten, streichelte Wangen und strich über Haare.“
Der Schweizer Journalist Konrad Warner.
Ein Skeptiker
„Wenn im Herbst auf dem Bückeberg das Erntedankfest war, dann strömten sie herbei von nah und fern, standen an den Straßen und schrien ‚Sieg Heil‘ und ‚Heil Hitler‘.
Ich bin dann in meinen Garten gegangen und habe Äpfel gepflückt.
Wenn sie zurückkamen, hatten sie ihren Herrn gesehen, um eck harre meine Appels in’n Korbe!“
Werner Düwel, Coppenbrügge, Zeitzeugeninterview, undatiert.
Distanzierte
„Da gingen wir nicht hin!“
Ein Landarbeitersohn aus Kirchohsen, Zeitzeugeninterview, undatiert.